Die Polytopie obigen sprachlichen Gebildes ist unumstritten; es bleiben aber zwei komplex ineinander verschränkte Fragen: Handelt es sich grundsätzlich bei Gesprächen um Texte? Und: Handelt es sich beim obigen Text um ein Gespräch? Die zweite Frage wird auf die Erörterung der Dialogizität solcher Netzgespräche in Kap. 3.2.2 verschoben. Die erste Frage muß hier beantwortet werden, um zu klären, ob ein polytoper Text wie a064 mit Hilfe der Textsortenklassifikation Rolfs beschrieben werden kann.
Harweg selbst bleibt unklar. Zwar beschränkt er seinen
Textbegriff in der 1. Fassung seines Buches (1968) auf
``gesprächsfreie Texte''.
Sein formalsyntaktischer
Textbegriff
läßt sich aber (mit den gleichen Problemen)
wie auf monotope auch auf polytope Texte anwenden.
Konsequenterweise entwickelt er nach 1968 das Konzept des
Großraumtextes, das er ins Vorwort der 2. Auflage (1979)
integriert. Großraumtexte
sind demnach Texte, die immer
temporal, ggf. aber auch personal und lokal polytop sind,
wofür er den Briefwechsel als Beispiel anführt. Auch mit
dem Ausdruck ``dialogische Texte
''
hat er keine Probleme,
macht jedoch weiter keine explizite Aussage zum
Textstatus von Gesprächen.
In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Auffassung,
Gespräche prinzipiell als `Texte' beschreiben zu können,
`Mehrheitsmeinung' in der Textlinguistik geworden. Es
bleibt jedoch die Frage, inwieweit sie als `Textsorten'
zu klassifizieren sind. Rolf selbst gesteht ein, daß
Großraumtexte wie Briefe mit Harweg als Texte anzusehen
sind
. Er billigt Gesprächen auch ``textuelle
Eigenschaften
'' zu.
In seine an der kommunikativen
Funktion ausgerichteten Textsortenklassifikation will er
Gespräche dennoch nicht aufnehmen, weil in Gesprächen
keine Unidirektionalität der Intention gegeben ist. Die
Gesprächen eigene Kohärenz sieht Rolf nicht als
``teleologisches Moment'', sondern als
``Interaktionseffekt
'':
``Der Zusammenhalt [Kohärenz, SR] von Gesprächen und
Diskussionen ist... im allgemeinen intentional nicht
kontrolliert
.'' Aber abgesehen von der (Streit-)Frage,
inwieweit Kohärenz immer bewußtes ``teleologisches Moment''
z.B. beim Schreiben monologischer Texte ist, trifft diese
Einschränkung für Netzgespräche nicht zu. Dadurch, daß in
a064 SH den Artikel gepostet hat, hat er die Möglichkeit
`intentionale Kontrolle' auszuüben und Kohärenz ggf.
durch bewußten Eingriff in die Gesprächsstruktur
herzustellen
.
V.a. aber läßt sich zur Klassifikation von
Gesprächen auf das Konzept der Illokutionshierarchie
zurückgreifen. Bei S. J. Schmidt heißt es dazu:
``Werden in einem Kommunikationsakt mittels verschiedener Äußerungsmengen verschiedene unterscheidbare Illokutionsakte realisiert, und lassen sich diese Illokutionsakte hierarchisch in ein kohärentes System einordnen, dann gilt die gesamte Äußerungsmenge, die die Illokutionshierarchie vollzieht, als Text...''
Zwar schließt Schmidt die Anwendung des Konzepts auf
Gespräche explizit aus. Für den Ausschluß eines
Netzgespräches, dessen konkretes Vorliegen auf die
Intention eines der Produzenten zurückgeht (im Beispiel
auf SH), gibt es dafür aber keinen sinnvollen Grund. Der
Illokutionsakt des Sprechers, der die zeitlich letzte
Äußerung produziert und den Artikel ins Diskussionsforum
gepostet hat, ist dann die dominierende Illokution, gemäß
der das Gesamtgespräch klassifiziert werden kann. In a064
ist die dominierende Illokution die Dankesformel von SH
in Z. 21: Also wird a064 in die Gruppe EX 7 eingeordnet.
Als subsidiäre Illokutionen lassen sich der direktive
Sprechakt von SH in Z. 15 und die assertiven Sprechakte
von SF in den Z. 17-19 auffassen.
Das Konzept der Illokutionshierarchie wird von Rolf
ausdrücklich anerkannt.
Die Klassifizierung der
dialogischen Artikel erfolgt über dieses Konzept in der
oben dargestellten Art.