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Schlußreflexionen: Der Computer als Schreib- und Lesegerät

 

Bis hierher wurde das Erscheinen von Formen der (herkömmlichen) Mündlichkeit in der (herkömmlichen) Schriftlichkeit behandelt. Die neue Schriftlichkeit aber, eine Schriftlichkeit, die so nur mit Hilfe des Computers als Schreib- und Lesegerät konstituiert wird, wurde in der Erwähnung der Editoren lediglich gestreift. Deshalb sollen jetzt einige philosophische, teilweise auch spekulative Anmerkungen zu diesem Thema die Arbeit abschließen. Die neue Schriftlichkeit steht im Zentrum des Interesses von Arbeiten, die sich im Rahmen der Schriftlichkeits- Mündlichkeits-Diskussion mit den Auswirkungen des Computers auf die Sprache befassengif. Sie findet sich in den hier untersuchten Anwendungsformen von CVK kaum, weil komplizierte Textformen und Textstrukturen von den gängigen Standards in der Datenfernübertragung heute noch nicht verarbeitet werden. Insofern beruht der in Kap. 3.3 genannte neue Texttyp noch auf der herkömmlichen medialen Schriftlichkeit. Die wichtigste neue mediale Struktur ist der Hypertext. Ein Hypertext ist ein Text, in dem ``einzelne Textelemente bzw. Textmodule netzwerkartig durch ein Referenzsystem miteinander verknüpft sindgif.'' Weingarten nennt solche Texte ``modular''. Das bedeutet, daß ein Wort, über das eine Verknüpfung (im Jargon ein Link) zu einem anderen Text besteht, typographisch markiert ist. Durch einfaches `Anklicken' des Wortes wird der entsprechende Referenztext auf dem Bildschirm angezeigt. Auf diese Weise können unterschiedlich strukturierte Texte verknüpft sein (auch Bild- und Tondateien können eingebunden werden). Hypertexte verändern die Lesegewohnheiten tiefgehend. Der Leser hat in einem Hypertextsystem einen bisher nicht gekannten selektiven Zugriff auf die Informationen, die er sich beschaffen will. Um einen als Verknüpfungspunkt gekennzeichneten Ausdruck zu verstehen, muß er nicht mehr wie bisher den Text, in den der Ausdruck eingebunden ist, in seiner Totalität lesen, um dann im traditionellen hermeneutischen Verfahren den Ausdruck als Teil aus dem Ganzen und das Ganze aus seinen Teilen zu begreifen. Der Leser wird den Ausdruck in seiner Isoliertheit durch den mit ihm verknüpften Referenztext zu verstehen versuchen, der im Idealfall eine Begriffserklärung ist (wenn der Ausdruck eine bestimmte Kunstform bezeichnet, vielleicht auch das Photo eines beispielhaften Werkes). Ein solches Referenzsystem existiert andeutungsweise in der analogen Textualität von Fußnotenverweissystemen und v.a. von Lexika. Erstmals traten Hypertexte entsprechend in elektronischen Lexika auf (meist als CD-ROM). Während aber bei herkömmlichen Lexika durch das notwendige Blättern noch die Möglichkeit besteht, trotz eindeutiger Selektionsabsicht `zufällig` etwas anderes wahrzunehmen und zu lesen, führt das Hypertextsystem umweglos zum ausgewählten Referenztext. Herkömmliche Lexika ermöglichen noch ein spontanes `Eindringen' von Erfahrungen in den Horizont des Lesers, der Hypertext nicht. Damit fördert und steigert diese Computertextstruktur ein Verhalten, das den Wechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit prägt: bewußte Selektion. Helmuth Plessner stellt fest, daß das Hören, welches der der Mündlichkeit entsprechende Sinn ist, vom Sehen, welches der Schriftlichkeit entspricht, dadurch unterschieden ist, daß Hören ungesteuert und distanzlos erfolgt: ``Ob nah oder fern, identifizierbar als ein Rascheln, Läuten, Ton einer Geige oder eines Saxophons - Ton dringt ein, ohne Abstandgif.'' Akustische Erfahrung ist wesentlich schlechter zu kontrollieren als visuelle. Man kann etwas ansehen, lesen, man kann `hinschauen' - oder nicht. Aber anatomisch ist es so, ``daß das menschliche Ohr sich selber nicht schließen kann wie das Augegif.'' Durch die Benutzung von Hypertextsystemen wird die Kontrolle vervielfacht. Aus diesem Grund knüpfen Hypertextsysteme direkt an die sog. ``secondary orality'' der bisherigen Massenmedien Radio und Fernsehen an. Ong zeigt, daß dieser `zweiten Mündlichkeit' all das fehlt, was in der vorliegenden Arbeit an Charakteristika konzeptioneller Mündlichkeit beschrieben wurde und was die CVK in den elektronischen Diskussionsforen (und den anderen in Kap. 2.1 genannten Formen) auszeichnetgif. Wenn December von den in Kap. 2.1 beschriebenen Formen von CVK als ``a tertiary form of oralitygif'' spricht und damit an Ongs Begriff für die Charakteristika der Massenmedien anschließt, ist das nur vertretbar, wenn man es als Gegenentwicklung zur ``secondary orality'' interpretiert. Die konsequente Weiterführung der `zweiten Mündlichkeit' ist der Hypertext, weil im Hypertext eine Form vorliegt, in der sich durch universelle passive Verfügbarkeit zwar Spontanität auszudrücken scheint, deren aktive Verwendung durch die Komplexität der Programmierung aber ein Höchstmaß an Planung und Kontrolle verlangt.

Das ehrgeizigste Hypertextsystem ist das schon genannte World Wide Web (WWW), in dem die Verknüpfung von Textmodulen nicht auf z.B. eine Lexikon-CD beschränkt bleibt, sondern weltweit erfolgt und alle nur erdenklichen Texte und Dateien in einem gewaltigen universalen Verweissystem aufeinander bezieht. Neben einer gewissen Faszination erweckt eine solche Vorstellung, deren Realisierung schnell voranschreitet, auch Angst und läßt erst die Bedeutung dessen verstehen, was Jean Baudrillard schon 1976 in der Erörterung der ``Metaphysik des Codes'' geschrieben hatte:

``Auf dem Höhepunkt einer immer weiter vorangetriebenen Vernichtung von Referenzen und Finalitäten, eines Verlusts von Ähnlichkeiten und Bezeichnungen entdeckt man das digitale und programmatische Zeichen, dessen ``Wert'' rein taktisch durch die Überschneidung mit anderen Signalen... bestimmt wird und dessen Struktur ein mikromolekularer Code von Kommando und Kontrolle istgif.''

Im WWW heißt ``Überschneidung'' die gegenseitige Referenz von Zeichen aufeinander, deren kontextabhängige Eigenbedeutung mehr und mehr in Vergessenheit geraten könnte. Was an dieser Stelle natürlich spekulativ ist. Tatsache ist, daß CVK in ihrer geschilderten Form kein Teil des WWW und auch sonst aus technischen Gründen nicht in Hypertextstrukturen möglich ist. Zwar ist CVK mit der Hilfe von WWW-Browsern möglich. Aber ähnlich wie bei der Benutzung von TIN erfolgt der Zugang zu den Artikeln in den Diskussionsforen nicht über modulare sondern über ``hierarchische Texte'', die kein System beliebiger Verweise, sondern eine feste Ordnungsstruktur repräsentierengif. Das Erstellen von Artikeln und (elektronischen Briefen) erfolgt dann über einen Editor, der sich im WWW-Browser nicht substantiell von demjenigen in TIN oder PINE unterscheidet. Die Texterstellung durch einen Editor, ein Schreib- oder Textverarbeitungsprogramm ist dessenungeachtet eine elektronische Form des Schreibens, die sich fundamental von der herkömmlichen auf Papier (sei es mit Bleistift oder Tinte, sei es mit der Schreibmaschine) absetzt. Die Absetzung besteht in der ``Auflösung der Einheit zwischen dem wahrnehmbaren Text und seiner materiellen Formgif''. Der mit dem Editor erstellte und wahrgenommene Text hat nämlich zunächst kein materielles Substrat, sondern besteht in einer bloßen virtuellen Repräsentation von sprachlichen Zeichen.

Textverarbeitungsprogramme werden gerade wegen dieser Eigenschaft geschätzt, die es ermöglicht, Korrekturen und Textpassagenverschiebungen großen Ausmaßes durchzuführen, ohne daß davon auf der Benutzeroberfläche des virtuellen Dokuments oder in seiner papiernen Realisierung irgendwelche Spuren bleiben. Das hat neue Arbeitstechniken zur Folge. Es kann ohne Rücksicht auf die typographische und orthographische Form geschrieben werden, weil das Geschriebene seinen vorläufigen Charakter erst beim Ausdruck auf Papier bzw. bei der Absendung als elektronisches Netzdokument verliert. ``Mußte zuvor mit vielen Konzeptstufen gearbeitet werden, können jetzt alle brauchbaren Textteile, einschließlich der ersten Notizen, bei der Endfassung verwendet werdengif.'' In gewissem Maße kann man daher von einer `Collagetechnik' in der Textproduktion reden. Das hat für die Textproduktion einerseits eine Beschleunigung zur Folge, andererseits ist die These vom sprachlichen `Qualitätssturz' computerunterstützt erzeugter Bücher und Aufsätze nicht ganz von der Hand zu weisengif. Für die Bewertung der CVK müssen jedoch ihre eigenen immanenten Qualitätskriterien berücksichtigt werden, nach denen i.d.R. auf Stil wertgelegt, dagegen der orthographischen Richtigkeit nur noch wenig Bedeutung beigemessen wird. Das ist primär nicht Folge orthographischer Inkompetenz. Es erklärt sich aus der erörterten Form und Funktion der CVK, in der Mechanismen aus dem mündlichen Gesprächsverhalten zu den Prinzipien der Schriftlichkeit hinzutreten und Teile ihrer Bedeutung übernehmen. Ein Prinzip der Schriftlichkeit wie die Orthographie hat nicht mehr die einstige Bedeutung, wenn das Verstehen der Äußerung auf Leserseite durch nonverbale Zeichensysteme, wie z.B. das der Emoticons oder durch die Nachvollziehbarkeit von Gesprächsverfahren, erleichtert wird. Die Sprachpflegegif wird sich an diesem neuen Schreibverhalten natürlich unabhängig vom Kontext immer stoßen. Die konservative Kritik hat auch als Gegengewicht zum zur Selbstreferentialität neigenden System CVK eine nicht unwichtige gesellschaftliche Funktion. Als Gegengewicht zum selbstreferentiellen Automatismus der Computertechnologie steht die konservative Sprachpflege funktional sogar auf der gleichen Seite wie die in Kap. 3.3 beschriebenen Formen von Desautomatisierung und `elektronischem Gewisper'.

Dessenungeachtet ist das Internet ein System weltumspannender Normierung. Weingarten erörtert den Drang zur Universalisierung als ein Erfordernis der ``postindustriellen Gesellschaftgif'', die mit einer die Gesellschaft in ihrer Ganzheit bedrohenden Partikularisierung zu kämpfen habe:

``Die Einheitlichkeit der auseinanderstrebenden Bereiche der Gesellschaft soll durch ein universelles Kommunikationssystem gesichert werden, das in der Lage ist, einerseits die Offenheit der Gesellschaft zu gewährleisten, andererseits aber die damit verbundene Unsicherheit und die Gefahr, daß zu viele Kommunikationsprozesse mißlingen, zu verminderngif.''

Die Standards, die innerhalb des Internets bei aller Verschiedenartigkeit einerseits der angeschlossenen Computersysteme und andererseits der Kompetenzen und Intentionen der Nutzer das Gelingen der Kommunikation möglich machen - das sind v.a. TCP/IP und NNTP -, sind hinreichend erläutert worden. Bei allen grundsätzlichen Bedenken gegenüber Universalisierungen und Automatisierungen und besonders gegenüber der Art, in der sich die europäisch-amerikanische Kultur in allen Bereichen als die allein gültige durchsetzt, ermöglicht ein verantwortungsvoll genutztes Internet bei einem Minimum an Universalisierung ein Maximum an Informationsaustausch und, wie gezeigt, selbst soziale Interaktion.


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